Monday, October 29, 2012

Unterrichten an Berufsfachschulen

Pflichtliteratur gehört an der Uni mitunter zum eher stiefmütterlichen, langweiligen Teil des Lernens. Meist entgeht der Dozent der Auseinandersetzung mit den Studenten, wenn sie die schweren Texte zu hause und mithin weitab vom Empfangsbereich der Lehrperson erdulden müssen.
Nicht so bei diesem Buch. Unterricht an Berufsfachschulen. Wer schon Lehrerfahrung an Berufsfachschulen hat, der weiss, wie schwierig es ist, solch heterogene Klassen zu motivieren. Da sind die Sätze alleine schon im Vorwort für mich klare Punktlandungen: In der Berufsbildung wird Allgemeinbildung verstanden als Befähigung der Jugendlichen, ein eigenverantwortliches Leben zu führen. Sie orientiert sich an deren Lebenswelt, an den Herausforderungen des Erwachsenenlebens und an gesellschaftlichen Normen. (Daniel Fleischmann).
Lehrpersonen müssen in den allgemeinbildenden Fächern also nicht nur das Wissen vermitteln, das bei Günther Jauch verhelfen könnte, eine Million zu gewinnen (ebenfalls Vorwort), es geht um das Bildenlassen von Persönlichkeiten: Menschen haben, besonders als angestellte Erwerbstätige, für andere (die Unternehmen) einen Gebrauchswert; umso wichtiger ist es, als Gegengewicht zu dieser ökonomisch erzwungenen Heteronomie die persönliche Autonomie zu fördern. (S. 15 unten). Bildung ist das Programm von allgemeinbildendem Unterricht und nicht die Erziehung von  Menschen zu Bündeln wirtschaftlich nützlicher Schlüsselkompetenzen. (S. 16 oben).
Die allgemeinbildenden Fächer in der Berufsfachschule sollen eine emanzipatorische Bedeutung für die Schüler erlangen: In der Auseinandersetzung mit diesen Problemem sollen die Lernenden eine möglichst hohe Souveränität über ihr eigenes Leben gewinnen. (S. 16 unten).

Wir Lehrer an Berufsfachschulen müssen - und das ist ein Lehrerverständnis, das wohl nicht von allen Schulleitern mitgetragen wird - die Schüler nicht zu gehorsamen Soldaten erziehen, sondern sie in ihrem Drang nach Freiheit und Eigenständigkeit unterstützen. Diese Meinung teile ich, wobei das Werk klare Einschränkungen macht, indem die Schüler auch lernen müssen, Widersprüche und Ambivalenzen auszuhalten (S. 30, zit nach Pfeifer).
Dass sich Lehrpersonen damit ihr Leben nicht einfacher machen, ist selbsterklärend. Wenn man die Schüler (genauso wie die eigenen Kinder) zu kritischen Staatsbürgern erziehen will, ist nur logisch, wenn diese Schüler ihre ersten Gehversuche auch im "geschützten Rahmen der Schule" machen und ihre "Hörnchen am Lehrer abstossen wollen".
Wir Lehrpersonen müssen solchen Gehversuchen mit viel Respekt begegnen, denn es ist auch eine Vertrauenssache, wenn wir die Schüler in dieser Lebensphase begleiten (und leiten) dürfen: Die jungen Menschen suchen in ihrer inneren Chaosphase nach einer eigenen Identität und Orientierung. (S. 29)

In der Adoleszenz besteht die zentrale Entwicklungsaufgabe darin, sich im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Zugehörigkeit zu Gemeinschaften zurechtzufinden (S. 34).
Beim Lesen dieser ersten 36 Seiten des Buches wurde mir klar, dass ich keineswegs alleine bin mit meinen Sorgen um die Lernleistung meiner Schüler. Sie sind in einer schwierigen Phase, hin und hergerissen zwischen dem Schutz der Kindlichkeit und dem Drang nach Erwachsensein. Das Kindsein ist bequem jedoch uncool. Das Erwachsenwerden ist geil und neu, verlangt jedoch das Verlassen der Komfortzone und kann schmerzliches Lehrgeld kosten. Der Umgang mit legalen und illegalen Drogen ist genauso schwierig, wie mit falschen und richtigen Freunden. Sexualität als Beweis der Erfahrung und der Eroberung neuer Welten (des andern Geschlechts) lässt nicht zu, dass man über Versagen oder ungeschicktes Verhalten berichtet. Die Eltern will man nicht fragen, die Freunde kann man nicht fragen und so entsteht eine völlig neue Einsamkeit, die durch die pseudo-Nähe und Vernetzung über soziale Medien eher verstärkt als abgeflacht wird.
Wer in diesem Chaos der Welten und Gefühle noch gute Schulnoten bringen soll, muss ja ein Streber oder Langweiler sein, Doch gerade auch hier müssen wir Lehrer klare Leitplanken setzen und den gebürenden Respekt gegenüber der Umwelt verlangen.
Jeder darf Lernen, wenn er will.
Jeder darf nichts lernen, wenn er das will.
Aber keiner hat das Recht, einen Andern vom Lernen abzuhalten.

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